Geschützt: Peru: Weihnachten und Neujahr im Heiligen Tal

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Das heilige Tal

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Weihnachtskerzen müssen. Der Poncho hilft gegen die Kälte.

ZWISCHEN CUSCO UND MACHU PICCHU

48 Stunden

im Bus. Da die Reise vom Pazifik in Ecuador bis an den Atlantik in Argentinien über Land mit allen landschaftlichen Veränderungen und Distanzen für uns Teil und Sinn unseres Unterwegsseins ist, kam nie in Frage, längere Strecken per Flugzeug zu überbrücken. Was man nicht gelaufen ist, hat man nicht gesehen. Und wenn schon nicht laufen, so doch zumindest fahren. Und sehen. Damit wir rechtzeitig zu Weihnachten in Cusco sein können, gilt es daher, von der Ecuadorianischen Grenze bis zur alten Inka-Hauptstadt an einem Stück durchzufahren. 26 Stunden bis nach Lima und nochmal 22 Stunden bis Cusco. Was erstmal als ziemliche Herausforderung erscheint, entpuppt sich bald als eine der angenehmsten Reisearten, die wir bisher erlebt haben. Die peruanische Busgesellschaft Excluciva bietet Komfort mit allem Pipapo. Eigener Fernseher, Bordessen, Decken, Kissen und fast komplett zurücklehnbare Ledersessel, auf denen man wunderbar schläft. Wir richten uns gemütlich ein – Schuhe aus, Beine hoch – und genießen die Landschaft. Erst die karge Wüste Nordperus, später die Berge zwischen Lima und Cusco.

Cusco

gefällt uns sofort. Denn überall im Zentrum der ehemaligen Hauptstadt des Inka-Reiches kann man die Fundamente der alten Tempel und Paläste bewundern. Einst verdeckt durch die Mauern spanischer Kirchen, und erst 1955 durch ein Erdbeben wieder freigelegt, bestehen sie aus gigantischen Steinblöcken, deren unregelmäßigen Kanten ohne Mörtel perfekt nahtlos aneinander gefügt sind. Der berühmteste dieser Blöcke hat zwölf Ecken. Kaum ein Tourist geht daran vorbei, ohne sich davor fotografieren zu lassen. Gerne samt Einheimischem in voller Inka-Montur, der stets bereit steht. Sollte man doch vorbeigehen, ohne den Stein eines Blickes zu würdigen, wie wir am dritten Tag, ruft einem gern jemand unaufgefordert zu: „THAT’S THE FAMOUS STONE!“

Weihnachten in Cusco.

Es ist kühl und verregnet. Fast wie in Berlin also.
Am 24. Dezember findet in der Altstadt ein gigantischer Weihnachtsmarkt statt, der Tausende von Menschen zieht. Völig anders als daheim in Deutschland kommt der Markt komplett ohne Glühwein und Muzemandeln aus, wartet dafür aber mit zahllosen Ständen auf, an denen Andenfrauen Moos, Zapfen, frische Zweige und anderes Grünzeug zum Dekorieren der Krippe feilgeboten wird. Es gibt mannigfaltigste Kerzen, von ganz einfachen, bis zu großen, üppigen, mit Mustern und goldenen Verzierungen. Manche Stände sind ausschließlich dem Niño Jesus gewidmet. Dort gibt es Jesuspuppen in verschiedenen Größen, dazu Strampler, kleine verzierte Bettchen und Kronen – jeder kann sich seinen eigenen Personal Jesus zunecht kaufen. Die Jesulein werden dann an allen Weihnachtstagen in den Betten-Körbchen rumgetragen, was ein bisschen an polnische Osterkörbe erinnert. Es gibt religiöse Malerei, Rosarios und sonstige Devotionalien, etwas weiter Stände mit deurigen Streetfood. Frittierte Kartoffelscheiben, krude Würstchenburger, Nudelpfannen, Hühnchen. Auf den Stufen zur Kathedrale Mustern zwei Schuhputzer meine dreckigen Wanderschuhe und bieten ihre Dienste an, „clean shoes for Christmas”! Wir sind so verzaubert vom aRajasthan Flair des Marktes, dass ihr fast den ganzen Tag dort verbringen.
Während wir am Abend in der Außenküche unserer Unterkunft unser Weihnachtsessen aus frischen Markteinkäufen zubereiten, schließen uns aus unserem Zimmer aus und müssen in der Kälte mit Blick auf unser warmes Zimmer warten, bevor wir zwei Stunden später von unserer Vermieterin gerettet werden. Tags darauf kriechen wir mir zerstörten Mägen zwischen Bett und Baños hin und her, da wir beim Weihnachtstagsessen, zu dem wir eingeladen worden sind, etwas zu experimentier- und probierfreudig waren. Begleitet wird all das von einem Feuerwerksbombardement, das bürgerkriegsähnliche Straßenschlachten vermuten lässt. Nach den Auskünften der Einwohner, wird dieser Zustand bis nach Silvester anhalten.
Wir sind demnach bereit, weiterzuziehen. Und den Spuren der Inka eine Weile lang zu folgen.

Ollantaytambo

Wir sitzen im Collectivo. Dabei handelt es sich um einen Minibus, der immer dann abfährt, wenn er so viele Passagiere eingesammelt hat, dass er voll ist. Nun rumpeln wir die Straße ins Heilige Tal der Inka hinein, am Fluss Urubamba und an der Bahnstrecke entlang, die erst nach Ollantaytambo und später nach Machu Picchu führt. Immer tiefer schneidet sich das Tal in die anwachsenden Berge. Riesige Massive, Gletscher und verschneite Gipfel. Vorbei an der Stadt, die wie der Fluss heißt, Urubamba. Die Hänge der Anden schieben wir riesige Elefantenfüsse in die Seiten des Ortes.

Nach zwei bis drei Stunden erreichen wir Ollantaytambo. Auf den ersten Blick wie ein Dorf in New Mexico. Erdfarbene Häuser mit Vordächern und Balken aus Holz, hinter denen sich unter der strahlenden Nachmittagssonne die schroffen Andenhänge erheben. Das gesamte Dorf ist in seiner von den Inka errichteten Grundstruktur, den Straßen und Häusern, den trapezförmigen Hauseingängen, den Wasserkanälen und engen Gassen seit dem 16. Jahrhundert komplett erhalten. Am Berghang erkennt man sofort drei der an den Inkastraßen typischen Speichergebäude und auf einer Anhöhe im Nordwesten thront der Sonnentempel innerhalb einer Festung mit meterhohen landwirtschaftlichen Terrassen.
Im Restaurant essen wir wie so oft Menü. Vorsuppe, Hauptgericht, Getränk zum schmalen Preis. Es gibt Gemüsesuppe und Forelle. Beides schmeckt traumhaft. Im TV läuft ein Fast and Furious Film.. Wie schon im Bus in Ecuador. Wenn wir lange genug in Südamerika bleiben, sehen wir noch die ganze Reihe. Ausgehungert nach Filmen jeglicher Art hängen wir am Bildschirm.
Unsere Unterkunft befindet sich in einem engen Hof mit umlaufendem Holzbalkon und einer winzigen Sonnenterrasse mit Liegestühlen. Ein hässlicher kleiner Hund mit Fledermausohren namens Apollo hockt am Eingang. Wir gehen dicht an ihm vorbei, er bewegt sich keinen Millimeter. Sitzt nur da wie eine Statue und blickt uns enigmatisch an.

Am nächsten Morgen sind wir kurz nach sieben die ersten, die die massigen Steinstufen an den Terrassenfeldern des Inka-Tempels von Ollantaytambo hinaufsteigen. Die Terrassen selbst wie Gottes Treppe in den Himmel. Sonnengottes.
Der Blick von oben auf den Ort, auf das Tal ist mit Worten kaum zu beschreiben. Noch schläfrig aneinander gedrängt die niedrigen Ziegeldächer, von denen vereinzelt Rauch aufsteigt. Sonnenlicht auf den vom nächtlichen Regen feuchten Straßen. Die Berge, noch schwarze Schatten, zwischen denen sich des Tal des Urubamba Richtung Cusco schlängelt. Dorthin, woher einst die Spanier kamen um den aufständischen Manco Inka zu verfolgen. Hierhin, wo der Verfolgte den Sonnentempel in eine uneinnehmbare Festung verwandelte, vor der die Spanier scheiterten. Als sie nach Cusco umkehren wollten, ließ Manco das Wasser des Urubamba umleiten, so dass die Pferde der Spanier im Morast versanken. All das liegt direkt vor uns. Und es ist nicht schwer, sich die Bilder der epischen Schlacht in dieser dramatischen Landschaft vor Augen zu führen.

Die Kraterbeete von Moray

Mit dem Collectivo fahren wir heute das Tal zurück nach Urubamba. Von hier mit dem Bus bis zu einem Straßenabzweig mitten im Hochland. Wir sind auf dem Weg nach Moray, einem Ort, an dem die Inka riesige Kraterbeete für landwirtschaftliche Experimente anlegten.
Am Abzweig nach Moray warten gelangweilte Taxifahrer, um Touristen wie uns die dreizehn Kilometer bis zur Stätte zu fahren. Zwanzig Soles soll es kosten, was ziemlich viel für eine Taxifahrt in Peru ist. Kein Bus, kein sonstiges Auto fährt hier. Das Monopol der Taxistas lässt also keine Preisverhandlungen zu. Ich biete trotzdem zehn Soles und wir laufen los, unter den ungläubigen Blicken der Taxifahrer, denen es wohl noch nicht untergekommen ist, dass Touristen hier Bedingungen stellen statt sich ihrem Diktat unterzuordnen. Heute haben wir jedoch einfach keine Lust, die erhöhten Touristenpreise zu zahlen. Irgendwie kommen wir schon hin.
Es war eine gute Entscheidung. Ein Flickenteppich aus grünen und leuchtend braunen Feldern erstreckt sich vor den rohen, gezackten Gipfeln der Andenkette. Wir laufen langsam, lassen uns Zeit, alles in uns aufzunehmen. Weit in die Ferne zieht es unseren Blick, bis zum weiß verschneiten Fünftausendern(Veronica, Nevado), zu tief eingeschnittenen Tälern und grandiosen Wolkenlandschaften, die wie Schlachtfelder am tiefblauem Himmel stehen.
Nach einer Dreiviertelstunde nimmt uns ein Taxi für zehn Soles mit nach Moray. Die im Rough Guide erwähnten 3$ Eintritt haben sich mittlerweile zu 23$ gemausert. Dafür bekommt man ein obligatorisches Sammelticket, mit dem man innerhalb von zwei Tagen vier historische Stätten besichtigen kann. Wir wollen eigentlich nur Moray sehen, das aber auf jeden Fall. Also drücken wir den Wucher ab.

Drei natürliche Senken in der Landschaft haben die Inka hier zu riesigen terrassierten Kraterbeeten ausgebaut, um die Mikroklimate der verschiedenen Ebenen für den Anbau unterschiedlicher Feldfrüchte zu nutzen. Die runden Linien schmiegen sich perfekt in die Landschaft. In der ersten Senke fallen die scharfen Kanten der Terrassen in perfekten Kreisen in die Tiefe ab. Wie ein riesiges grünes Amphitheater, das komplett im Kreis geschlossen ist. Erich von Däniken hätte hier sicher eine Landestation für Raumschiffe mit abgestuftem Pyramidenboden vermutet. Während dieses erste Beet restauriert ist, befinden sich die anderen zwei noch in ihrem Originalzustand und sind etwas verfallenerer. Hinunterlaufen ist verboten. Wir laufen hinunter. Immer weiter die hohen Steinterrassen hinab, bis wir unten in der Mitte stehen, umgeben von den weiten aufsteigenden Kreisen aus Stein und Gras.

Wieder oben sehen wir einen einheimischen Jungen, der einem kleinen Schaf hinterher läuft. Das Schaf ist genervt, der Junge lärmt ihm hinterher. Karo steht daneben und freut sich. Alle drei heben sich schwarz ab vor dem wilden Panorama der Andengipfel.
Auf dem Taxiparkplatz trottet ein Wolfshund an uns vorbei. Dichtes, braun-schwarz gestrupptes Fell, langer buschiger Wolfsschwanz. Bernsteinfarbene, stechende Wolfsaugen, die uns nie direkt, sondern immer nur wie zufällig kurz von der Seite ansehen. Der Wolf in ihm verbietet sich den direkten Kontakt mit uns. Doch als wir den Parkplatz in Richtung Ollantaytambo verlassen, schaut der Hund in ihm uns dann doch hinterher.

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Nach Machu Picchu

Gerne wären wir den viertägigen Salkantay- oder den Inka-Trail nach Machu Picchu gelaufen. Doch aus Zeitgründen haben wir uns schließlich dazu entschieden, von Ollantaytambo mit dem Zug anzureisen.
Den Ort hinter uns lassend zuckelt und schaukelt der regionalbahnartige Wagon der Inca-Rail immer an den braunen Wassern des Urubamba entlang. Vorbei an Mais- und Kürbisfeldern, an Kühen und Schafen, durch das breite, ebene Tal. Bald rücken die Bergwände näher, ragen bis hoch hinauf in die Panoramafenster des Zuges, bis stellenweise nur noch ein Meter zwischen Zug und Felswand liegt. Wir durchfahren mehrere Tunnel und jedes Mal kreischen die Einheimischen auf wie in der Geisterbahn. Bald weichen die landwirtschaftlichen Flächen dichter Dschungelvegetation. Lianen, Bromelien auf den Bäumen und herabhängende Moossträhnen. Als wir kurz halten, macht Karo neben uns ein Feld aus, dessen Pflanzen verteufelt wie Marihuana aussehen. Kurz darauf fahren wir in Aguas Calientes ein.

Aguas Calientes

Coca Cola und Inca Cola. Während die C.C. Company sich für den Deutschen Markt aus politischen Gründen der 1930er Jahre die orange Chemo-Brause Fanta ausdachte, wurde für Peru ein gelbes Zuckerwasser mit dem naheliegenden Namen Inca Cola entwickelt. Karo ist Fan und säuft das Zeug flaschenweise (schmeckt wie Bonbons!), während ich mir hier im Urlaub ein Übermaß am schwarzen Original gestatte. Dazu kippen wir heimlich kleine Schlucke aus einem Alki-Fläschchen Rum, um den Magen zu desinfizieren.
Wir sitzen im Restaurant und schauen auf die Bahngleise, die dem Ort mit den dahinter aufragenden Bergen ein gewisses Westernflair verleihen. Ansonsten ist Aguas ein modernes Betonscheusal aus Souvenir-Ramsch, überteuerten Restaurants und seelenlosen Hotels. Manche Orte gewinnen bei Einbruch der Dunkelheit an Atmosphäre. Nicht so Aguas Calientes. Als Tor zu einem der mystischsten, spirituellsten Orte Südamerikas, offenbart es sich eher als babylonische Freakshow. Um den wild um sich blinkenden Weihnachtsbaum auf der Plaza herum finden sich laute Backpacker, aufgeregte asiatische Touristen, systemkamerabehängte Upperclass-Traveller, Pringles fressende Kinder und namenbrüllende Tourguides. Musik plärrt aus Lautsprechern der Restaurants, Souvenirladenverkäufer rufen potentieller Kundschaft hinterher und im Hintergrund blinkt die Neonbeleuchtung an der Kirchenfassade im Sekundentakt an und aus. Es könnte kaum einen uninspirierenderen Ort geben.
Doch wenn man nach oben blickt, auf die tiefschwarzen Silhouetten der um den Ort herum aufragenden, eng aneinander gedrängten Berge, weiß man, dass all der Trubel völlig isoliert ist, in der unergründlichen Wildheit der Anden.

1300 Meter Treppe

Um vier Uhr stehen wir auf. Frühstück ist in unserem Hotel “Machu Picchu Royal“ inklusive und besteht aus den in Südamerika scheinbar heiligen drei Komponenten Weißbrot, Erdbeermarmelade, Instantkaffee. Eine Tischnachbarin hat unerklärlicherweise ein gekochtes Ei, das sie uns mangels Appetit schenkt. Wir freuen uns wie mit Bananen beglückte Ossis, werfen das Ei aber später leider aus Angst vor Lebensmittelvergiftung weg.

Wer nicht läuft, fährt hinauf nach Machu Picchu. Eine Schlange von etwa hundert Leuten wartet bereits auf den ersten Bus, während wir mit einigen anderen die noch dunkle Straße am Urubamba entlang laufen. Wie schwarze Scherenschnitte füllen die Berge den gesamten morgentlichen Himmel aus. Als der Tag sich langsam beginnt mit Licht zu füllen, überqueren wir eine Hängebrücke über den reißenden Fluss und erklimmen die ersten Steinstufen des Wanderweges, der in direkter Linie, die Busserpentinen kreuzend, hinauf führt. Dichtes Grün und breitblättrige Vegetation. Direkt vor uns ein Berg wie ein gigantischer Zuckerhut, um dessen Fuß sich der braune Fluss und die Bahnlinie schlängelt.

Nach anderthalb Stunden sind wir völlig durchgeschwitzt oben angekommen. Auf einem Schild lesen wir, dass wir 1300 Höhenmeter hinaufgestiegen sind. Am Eingang wartet eine dreireihige Schlange aus hunderten von Leuten, die bereits mit Bussen hochgekarrt wurden. Ich entscheide, dass wir als Fußgänger klares Vorrecht genießen und drängle uns ins vordere Viertel der Schlange vor, eine freundliche koreanische Familie lässt es durchgehen. Wir passieren den Ticket-Check und folgen dem Weg um eine Felsbiegung, vorbei an einer Gedenktafel für Hiram Bingham, den „Entdecker“ Machu Picchus. Und dann stehen wir davor.

Machu Picchu

Ein Gemälde aus Steinwerk, aus Straßen, Häusern, Terrassen, den Zuckerhutbergen Huayna Picchu und Machu Picchu und dem grau verhangenen Himmel. Bis hoch in die Wolken reichen die dahinter liegenden blau-grünen Gipfel der Anden. Wild gezackt und mit Wänden, die teilweise so steil sind, dass sie senkrecht abzufallen scheinen. Anderthalb Kilometer unten in der Tiefe erblicken wir erneuet den braunen Urubamba, der in einem Haarnadelmeander durch das Tal rauscht, daneben den Zug der nun auf die Größe einer TT-Modeleisenbahn geschrumpft ist. Ihr Pfeifen allerdings hallt durchdringend in den Bergen wider und verleiht Ihr Größe und Würde jenseits eines Spielzeugzugs.
Wir laufen durch die alte Stadt, deren Namen niemand kennt und die ihren heutigen von einem ihrer Berge, dem „Alten Berg“ leiht. Möglicherweise wurde sie vom größten Inka, von Yupanqui, als Winterquartier, religiöses Zentrum oder Freudenstätte errichtet. Dass man das nicht so genau weiß, trägt sicher ebenso wie die mystische Umgebung zum Mysterium des Ortes bei.
Da wir zwei von über zweitausend Touristen sind, die täglich die Anlage durchstreifen, ist es nicht ganz leicht, einen Ort zu finden, an dem man Machu Picchu in Ruhe auf sich wirken lassen kann. Die wichtigsten Punkte sind mit einem strikten Einbahnstrassensystem verbunden, das von Aufsichtspersonal überwacht wird. Um den Massen etwas zu entkommen, steuere ich uns gegen den Strom der Gruppen und werde prompt zurück in die korrekte Richtung gewiesen. Eine Anekdote, die ich das nächste Mal zum besten geben werde, wenn über deutsche Regulierungswut hergezogen wird.

Etwas ruhiger ist es zwischen einigen kleinen Häusern mit komplett erhaltenen Spitzgiebeln. Nur die Dächer fehlen, um sie bewohnbar zu machen. Man vermutet hier das Viertel der Arbeiter, die die Terrassen bewirtschafteten. Die Steinmetzarbeit ist so perfekt, dass noch immer alle Steine ohne Mörtel lückenlos aufeinander sitzen. Die typischen Eingangsportale, trapezförmig zulaufend, sind oben mit einem schweren Giebelstein versehen. Weder Räder noch Rundbögen waren den Inka bekannt. Ihr bergiger Lebensraum und die häufigen Erdbeben machten die Erfindung beider wohl unnötig. Stattdessen sind fast alle Gebäude, dem Beispiel der Berge folgend, nach oben hin verjüngt errichtet und somit erdbebensicher.
Der Ort bildet mit der umgebenden Landschaft eine so harmonische Einheit, dass man nicht das eine oder das andere, sondern beides in seiner Gesamtheit bewundert.
Wir sitzen vor den Häusern der Arbeiter auf einer kleinen Steinbank am Rande der obersten Terrassen. Von hier wird unser Blick hinabgezogen in den Abgrund, die Tiefe aus Tälern und Hängen und wir fühlen uns zurückgeworfen auf unsere Winzigkeit als Mensch, zurechtgewiesen durch die Mächtigkeit der Umgebung, beschenkt durch diesen Anblick.
Hinter uns plötzlich Stimmengewirr. An unsere Steinbank drängt sich eine Gruppe von zwanzig Personen, deren Priorität es ist, von diesem Punkt aus die Landschaft zu fotografieren. Dass sie dabei fast ihre Knie in unseren Rücken drücken, scheinen sie gar nicht zu bemerken.

Auf und weg also. Wir traben die Einbahnstraßen entlang zum Sonnentempel. Seine Steine verlaufen in einem perfekten Rundbogen. Unter dem Tempel verbirgt sich ein Raum, in dem das Grab Yupanqui-Inkas vermutet, jedoch kein Leichnam gefunden wurde. Daneben eine kleine aus einem Stück Fels gearbeitete Steintreppe mit weichen Stufen.

Läuft man zum Sonnentor, einem etwas abseits der Stätte gelegenen Ort, erreicht man den Punkt, an dem Wanderer des Inka-Trails zum ersten Mal die Stadt aus der Ferne erblicken. Leider müssen wir auf dem einzigen Weg dorthin wieder mit Massen aus quakenden Nordamerikanern, schlurfenden Rentnern und halbinteressierten Kindern die langen Terrassen und engen Gassen entlang zuckeln. Das Erlebnis hier zu sein büßt durch die schiere Menge an Menschen einen Großteil seiner Faszination ein. Die Magie des ganzen Ortes und seiner Umgebung ist zwar so stark, dass sie durch nichts profanisiert werden kann, doch völlig kann man sich ihr einfach nicht hingeben.
Nach einer Weile erreichen wir den Aussichtspunkt, von dem aus man den berühmten Machu Picchu Blick auf die Stadt hat. Die Zuckerhüte des Machu Picchu und des Huyana Picchu bilden mit etwas Phantasie Kinn und Nase eines liegenden Indianer-Gesichts. Besonders zur Sonnenwende zieht es tausende Besucher hierher, wenn das Licht diesen Eindruck noch verstärkt. Irgendein Teenager neben uns mault, „Ok, we’ve seen it. Can we go now?“
Es ist mittlerweile Mittag. Die morgendlichen Wolken haben sich verzogen und die Sonne steht strahlend und heiß über Machu Picchu. Wir suchen etwas Schatten und teilen ihn mit einem kleinen Hund, der sich zum Abkühlen in den Graben neben dem Weg gelegt hat.
Wir laufen das letzte Stück des Inka-Weges in entgegengesetzter Richtung leicht bergauf in Richtung Sonnentor. Die riesigen Steine sind etwas uneben, aber noch immer gut begehbar. Ein bis zwei Meter breit bietet der Weg gerade genug Platz für zwei entgegenkommende Lama-Karawanen. Nur wenige Leute kommen uns hier entgegen und bald sitzen wir mit einigen Anderen auf den Terrassen am Sonnentor und blicken zu dem kleinen grauen Fleck auf dem Bergrücken mitten in der Andenlandschaft, der Machu Picchu von hier aus gesehen ist.
Man könnte den Rest des Tages so verbringen. Doch einen Stein in der Stadt, mit dem sich wahrscheinlich jede Berliner Skulpturensammlung gern schmücken würde, möchten wir noch sehen. Die Sonnenuhr. Wie jede Skulptur im Museum nur toter Stein, ist sie hier in ihrer natürlichen Umgebung Fortsetzung und Krone einer kleinen Terrassenpyramide und perfekt geschliffener und ausgerichteter Marker für Sonnenstand in Stunden und Monaten.

Die Sonne setzt uns immer mehr zu. So lassen wir uns, erschöpft von den vielen Eindrücken an Baukunst, Landschaft und Mystik, in den Schatten eines der Arbeiterhäuser von heute Morgen fallen und verdösen eine Stunde im Angesicht der hohen Andengipfel. Jetzt am Nachmittag ist es etwas ruhiger geworden, da die ganzen Wahnsinnigen, die Machu Picchu von Cusco aus an einem Tag besuchen, schon wieder im Bus sitzen, um ihren Nachmittagszug zurück zu bekommen.

Noch einmal schauen wir auf die Berghänge, an deren Fuß der Urubamba seine Schleifen zieht. Ein Kolibri durchstöbert einen rosa blühenden Strauch nach Nektar. Blaugrün schimmernd zuckt er zwischen den Blüten hin und her. Ein winziger gelber Schmetterling flattert vorbei. Und über den Bergen grollt ein Gewitter.

Wir wollen den Abendzug zurück nach Ollantaytambo nehmen. Langsam machen wir uns daher auf den Rückweg. Streifen noch einmal durch die steinernen Straßen, blicken zurück auf den Huayna Picchu, auf die spitzen Dachgiebel, und die Andengipfel dahinter, auf die Linien der Stadt. Können uns nicht losreißen und bleiben noch eine Weile an den breiten Terrassen stehen. Abendlicht und lange Schatten. Noch ein Blick zurück auf ein kleines Fenster, das uns vom höchsten Häuschen auf dem Gipfel des Huayna Picchu entgegenblickt. Und trotz aller Erklärungen, die wir bekommen haben immer wieder die Frage: Wie haben sie das bloß geschafft?
Als es Abend wird, steigen wir die lange Steinstufentreppe hinab und verlassen diesen Ort aus Bergen, Stein und Zeit.

Silvester

Am Abend des 31. Dezember sind wir wieder in Ollantaytambo. Wir sitzen mit zwei Schweizern, die wir vor fünf Minuter kennen gelernt haben, auf der kleinen Terrasse unseres Hostels. Die beiden sind zehn Monate in Südamerika unterwegs. So schnell können unsere drei zu einer Kurzreise werden. Nach einer Weile gesellt sich auch noch ein Typ aus Singapur dazu. Er fragt, ob wir Machu Picchu machen wollen. Ich erwidere im Scherz, nein, daran wären wir nicht interessiert. Er daraufhin im Ernst, er auch nicht. Er sei hier um eine Ayuasca-Kur zu machen. Stummes Kopfnicken unsererseits. An die Ayuasca-Kur schließe sich dann noch ein Mescalin Seminar an. Kurz herrscht Stille von Seiten der Schweiz, Polens und Deutschlands. Dann versuche ich zu bemerken, dass er sich da ja ganz schön was vorgenommen habe. Yeah, I had a calling. Gut, dagegen kann man schwer etwas einwenden.
Chips und Bier machen die Runde. Langsam geht es gegen Mitternacht. Angeblich passiere da nichts in Peru, gefeiert werde der erste Januar, nicht die direkte Jahreswende. Aber um uns herum sausen Knaller und Raketen, dass wir uns fast wie zu Hause in Berlin fühlen. Wir stoßen mit den Bieren an. Ich halte eine kurze Rede auf Internationalität, die Magie des Moments und das Glück des Hierseins. Alle sind beseelt genug, um das durchgehen zu lassen.
2016 beginnt also in Peru. Mit guter Gesellschaft, Bier aus 670 Milliliter-Flaschen und einer explodierenden Rakete, die direkt neben dem iPad landet und es fast in die Luft sprengt.

Neujahrswanderung

Nach fünf Stunden Schlaf stehen wir um sechs Uhr auf. Ich packe Fressalien und fünf Liter Wasser in einen Rucksack, denn wir wollen heute zur Puerta del Sol. Sonnentore mochten die Inka, auch hier gibt es eins. Der Weg dorthin führt auf der anderen Talseite eine Inka-Straße fünf Stunden lang bergauf.

Über eine kleine Hängebrücke gelangen wir auf die gegenüberliegende Talseite und folgen dem stetig ansteigenden Weg am Talhang entlang. Es ist bewölkt. Schade für die Sicht, aber gut für uns, da es auf der gesamten Strecke keinen Schatten gibt und wir so nicht der beißenden Sonne ausgesetzt sind. Jenseits des Urubamba liegen Mais-, Kartoffel und Bohnenfelder. Ihre Wege und Linien sind so angelegt, dass sie von oben betrachtet eine dreidimensionale Pyramide darstellen. Am Felshang hinter Ollantaytambo sieht man die drei Inka-Speichergebäude. Mit etwas Phantasie oder Wissen aus einem Buch über die Baukunst der Inka erkennt man um die Gebäude eine Felswulst, die wie ein großer Sack wirkt, in dem die Speicher als Gepäck stecken. Getragen wird dieser Sack wiederum von einem grimmig dreinblickenden Gesicht, dem Wächter. Von weitem nicht sehr groß, ist es doch ein gigantisches Stück Fels, aus dem Nase, Augen, Kinnpartie herausgearbeitet wurden.
Die tiefe Verbindung mit Ihrer Umgebung befähigte die Inka dazu, Objekte von Wichtigkeit in Formen der Landschaft zu erahnen und auszubauen. Und das an Orten, an denen die Sonne Lichteffekte hervorruft, die diese Formen noch verstärken. So ist beispielsweise das Auge des Wächters am Vormittag geöffnet und am Nachmittag geschlossen. Und das liegende Indianergesicht von Machu Picchu lässt sich besonders zur Sommersonnenwende gut erkennen. Magischer Blick. Bei den meisten Menschen fällt er im Laufe des Lebens der „Realität“ zum Opfer. Auf dem Boxhagener Markt in Berlin hörten wir einmal am Obststand einen Jungen mit Blick auf stachelige Früchte zu seinem Vater sagen, Guck mal, da sind Drachen! Woraufhin der Vater erwiderte, das das keine Drachen seien, sondern Obst.

Der Weg windet sich weit den Hang hinauf. Vor uns erblicken wir die ewig verschneiten Gipfel um den Nevado, einen Schneeriesen, den wir bereits von Moray aus gesehen haben. Meterhohe Agaven werden hier als Hecken gepflanzt. Davor wachsen komplett rote Pflanzen, die es zu Hause bei Obi zu kaufen gibt. Kleine grelle Blüten sitzen schräg auf knubbeligen Kakteen.

Die ganze Zeit über wabert Musik aus dem Tal zu uns herauf. Driftet heran, driftet davon. Die Neujahrsfestivitäten in Ollantaytambo haben begonnen und irgendein Ansager auf dem Marktplatz hat das Mikro so laut aufgedreht, dass wir ihn hier, tausend Meter höher, so gut hören, als stünde er neben uns. Die Akustik der Berge.

Das letzte Stück des Weges verläuft diagonal den Berg hinauf, direkt auf das kleine Steintor zu, das wir unten im Ort immer für ein kleines Felsstück gehalten hatten. Der Blick fällt steil hinab ins Heilige Tal. Linkerhand folgt er der Bahnstrecke Richtung Aguas Calientes, mit dem braunen Band des Urubamba, das in weiten Meandern zwischen den Berghängen verläuft! Die wie eine Ins Meer abfallende Steilküste im Tal enden. Rechts der Blick nach Ollantaytambo. Der Ort ist selbst in Form eines Maiskolbens angelegt. Er wird am Kopfende von den angrenzenden Feldern umschlossen, die ihrerseits begrenzt sind von der Flussbiegung und so die Form einer Baumkrone annehmen. Mit dem Ort als Stamm, der einem Seitental entsprießt und den Feldern als Krone entsteht im Ganzen das ungefähre Bild eines Baumes. Etwa magischen Blick braucht es, um die einstigen Formen noch immer auszumachen. Klar zu erkennen „ragt“ jedoch die dreidimensionale Pyramide aus den Feldern. Komplett mit Ein-und Ausgang.

Noch eine kleine Anhöhe steigen wir hinauf, dann stehen wir vor dem Sonnentor. Als wir hindurch schauen, reißt für einen kurzen Moment der Himmel auf. Und umrahmt von den Steinen des Torrahmens steht strahlend weiß vor dem tiefen Blau das Himmels der massige, fünftausend Meter hohe schneebedeckte Gipfel des Nevado.

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